Gastkommentar

Es geht um Inklusion

Das wirkliche Potenzial von Menschen mit Behinderung ist noch unentdeckt. Sie leben häufig in Institutionen, eine freie Entwicklung ist in den stark reduzierten Lebensräumen kaum möglich.

Martin Haug
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Die Geschichte der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in der Schweiz ist noch jung. (Bild: Alexandra Wey / Keystone)

Die Geschichte der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in der Schweiz ist noch jung. (Bild: Alexandra Wey / Keystone)

In der Schweiz leben rund 1,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Mit rund 2,7 Milliarden Franken pro Jahr finanzieren die Kantone Institutionen der Behindertenhilfe, Wohnheime, Werkstätten, Tageszentren. Dort sind Menschen mit Behinderung gut versorgt, und es wird gut für sie gesorgt. Die entscheidende Frage aber lautet: Wie definieren die rechtlichen Vorgaben die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung? Sie verpflichten den Staat, Diskriminierungen in den Bereichen Bildung, Arbeit, Freizeit, Wohnen, öffentlicher Verkehr, Mobilität, Bauen und Kommunikation abzubauen. Die zentralen Begriffe heissen «Gleichstellung» und «Inklusion».

Wie steht es um die Gleichstellung?

Die Geschichte der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in der Schweiz ist noch jung. Das Bild von der Persönlichkeit des behinderten Menschen ist geprägt von seinen wirtschaftlichen und intellektuellen Leistungseinschränkungen und seinen körperlichen Beeinträchtigungen. Menschen mit einer Behinderung werden als Minusvariante der Nichtbehinderten gesehen. Die Erkenntnis, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger sind, setzt sich nur ganz langsam durch. Das im April 2004 in Kraft gesetzte Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) und die im April 2014 ratifizierte Uno-Behindertenrechtskonvention (BRK) schaffen die rechtlichen Voraussetzungen, damit behinderte Menschen barrierefrei am öffentlichen Leben teilnehmen können.

Wie steht es um die Gleichstellung? Die im letzten Jahr erfolgte Evaluation des BehiG zeigt, dass die Schweiz von der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und einer inklusiven Gesellschaft weit entfernt ist. Politik und Verwaltung sind über die Rechtsgrundlagen schlecht informiert. Menschen mit Behinderung haben keine Lobby. Es mangelt an einer Durchsetzung des Rechts mittels einer nationalen Behindertenpolitik. Es fehlt ein Konzept zur Umsetzung der Uno-BRK. In den Kantonen gibt es, im Unterschied zu den anderen Gleichstellungsthemen, keine Fachstellen; die einzige kantonale Stelle wurde von der Regierung des Kantons Basel-Stadt im Rahmen eines Sparprogramms im letzten Jahr geschlossen. Es fehlt ein Monitoring des Vollzugs des BehiG. Die Fristen der Umsetzung des BehiG beim öffentlichen Verkehr werden nicht eingehalten. Es gibt Lücken im rechtlichen Schutz vor Diskriminierungen. Noch immer also planen mobilitätsbehinderte Menschen ihren Alltag über den Zugang zu einer rollstuhlgängigen Toilette, noch immer leiden Menschen mit psychischen Erschütterungen unter dem Stigma «einmal psychisch krank – immer psychisch krank».

Menschen mit einer Behinderung werden als Minusvariante der Nichtbehinderten gesehen.

Wie steht es um die Inklusion? Die BRK verpflichtet die Vertragsstaaten, sofortige Massnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Behinderung dort leben, lernen, arbeiten und wohnen, wo alle Menschen es tun, in einem Stadtquartier, in einer Gemeinde. Inklusion schliesst Sonderlösungen aus. Jede Sonderinstitution beengt die Lebensräume, den Lebensplan von behinderten Menschen, auch bei hoher Qualität der Dienstleistung. Sonderinstitutionen entmündigen den Menschen. Er wird zum Objekt.

Alle von Menschen mit Behinderung benötigten Formen des Nachteilsausgleichs müssen zukünftig ambulant, am Lebensort der Betroffenen, geleistet werden. Bezeichnenderweise kommt der stärkste Widerstand gegen dieses Menschenrecht von den Institutionen der Behindertenhilfe. Die gut finanzierten Einrichtungen, die Tausende von Menschen beschäftigen, verwenden Begriffe wie «Gleichstellung», «Inklusion», «Selbstbestimmung» in ihren Leitbildern. Die Umsetzung durch konkrete Schritte fehlt aber in der Schweiz fast vollständig. Über 90 Prozent der Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung werden in stationären Einrichtungen geleistet. Das heisst: Die Behindertenhilfe und die Sozial- und Heilpädagogik haben ein starkes Interesse daran, dass Menschen mit Behinderungen Menschen mit Behinderungen bleiben. Sie zeigen kein Interesse, die behindernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beschreiben und abzubauen. Sie sind nicht bereit, ihre Beteiligung an behindernden Prozessen in den Blick zu nehmen, um dadurch über sich als potenziell Behindernde zu reflektieren.

Wissenschaft der Heilpädagogik neu schreiben

Deshalb ist das wirkliche Potenzial von Menschen mit Behinderung noch unentdeckt. Sie leben häufig in Institutionen, eine freie Entwicklung ist in den stark reduzierten Lebensräumen kaum möglich. Ihnen wird die Fähigkeit aberkannt, für sich selber und ihr Leben – und ebenso für ihre Fehler – Verantwortung zu übernehmen. Die Inklusion aber löst die für uns alle behindernden Grenzen auf und führt zusammen, was zusammengehört und doch verschieden ist. Menschen mit Behinderung werden von ihrem Umfeld nicht mehr über ihre Behinderung, sondern über ihre Individualität und ihre Ressourcen wahrgenommen. In einer inklusiven Gesellschaft muss die Wissenschaft der Heilpädagogik in grossen Teilen neu geschrieben werden. Dann gibt es Forschungsprojekte mit Titeln wie: Gehörlos und vielsprachig, blind und sehend, körperlich behindert und mobil, psychisch erschüttert und hochsensibel, geistig behindert und selbständig, schwerstbehindert und voll im Leben.

Martin Haug, Heilpädagoge, war langjähriger Leiter der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderung des Kantons Basel-Stadt.