Interview

«Es gibt zu viele Heimplätze»

Sie sind behindert und fordern, dass Heimplätze abgebaut und Behindertenorganisationen die Subventionen gekürzt werden. Im Interview erklären Islam Alijaj und David Siems, warum das nötig ist.

Jan Hudec
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David Siems (links) und Islam Alijaj ecken mit ihren Forderungen an. (Bild: Goran Basic / NZZ)

David Siems (links) und Islam Alijaj ecken mit ihren Forderungen an. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Islam Alijaj und David Siems sind elegant gekleidet, als wir sie zum Gespräch treffen. Siems trägt zum Anzug eine leuchtend blaue Fliege und einen grauen Hut und macht damit gleich deutlich, dass er sich nicht verstecken will. Die beiden jungen Männer sind behindert – Alijaj leidet an Cerebralparese, Siems am Marfan-Syndrom –, aber davon wollen sie sich nicht einschränken lassen. Sie wollen, dass Behinderte als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert werden, und machen sich dafür mit ihrem Verein «selbstbestimmung.ch» stark. In einem Manifest, das sie kürzlich veröffentlicht haben, schrecken sie auch nicht davor zurück, etablierte Organisationen zu kritisieren.

Es gibt schon viele Organisationen, die sich um die Belange von Behinderten kümmern. Warum braucht es Ihren neugegründeten Verein?

David Siems: Die Behindertenbewegung ist aus unserer Sicht etwas eingeschlafen. Mit unserem Verein wollen wir das Vakuum füllen. Gerade jetzt, da es um die Umsetzung der Uno-Behindertenrechtskonvention geht, ist es besonders wichtig, dass wir unsere Interessen vertreten.

Sie haben kürzlich ein Manifest publiziert. Darin schreiben Sie, dass die Behinderten ihre Lethargie überwinden müssten. Machen sie zu wenig?

Siems: Es ist ein Phänomen, das man immer wieder beobachten kann. Wenn Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung zusammen ein Projekt anpacken, dann läuft es häufig darauf hinaus, dass die Nichtbehinderten die Führung übernehmen und die Behinderten sich zurücklehnen. Man beklagt sich dann zwar gerne über Dinge, die nicht in Ordnung sind. Aber der Antrieb, selbst etwas zu verändern, selbst die Stimme zu erheben, der fehlt oft.

Islam Alijaj: Es ist aber schon auch ein Problem des Systems. Alles ist institutionalisiert. Menschen mit Behinderung lernen so nicht, selber zu denken, ihre eigene Meinung zu äussern. So entwickeln sie nie das Selbstbewusstsein, das man braucht, um für die eigene Sache einzustehen.

Was wollen Sie mit Ihrem Verein verändern?

Alijaj: Unser Hauptziel ist es, dass Menschen mit Behinderung selbstbestimmter leben können. Dazu müsste man in erster Linie einmal das Finanzierungsmodell verändern. Heute haben wir im Kanton Zürich eine objektorientierte Finanzierung, das heisst, dass der Kanton nur bezahlt, wenn man sich für ein Leben in der Institution entscheidet. Wir dagegen plädieren für eine subjektorientierte Finanzierung, so dass Menschen mit Behinderung sich auch für eine eigene Wohnung entscheiden und selbst jemanden einstellen können, der sie unterstützt. Im Kanton Bern gibt es das schon. In Zürich hinkt man der Entwicklung hinterher.

«Der Kanton Zürich ist ein Entwicklungsland, wenn es um innovative Konzepte geht.» – David Siems

Laufen so nicht die Kosten aus dem Ruder?

Siems: Nein. Wir meinen damit ja nicht, dass die Betroffenen einfach sagen können, wie viel Geld sie haben wollen, sondern dass sie über die Verwendung der ihnen zugesprochenen Gelder selbst entscheiden können. Damit entstünde ein echter Markt, was eben auch dazu führen würde, dass die Angebote besser und die Kosten niedriger würden. Die Institutionen müssten sich an den Kundenwünschen der Behinderten ausrichten. Mit dem heutigen System haben sie vor allem ein Interesse daran, den Status quo zu erhalten.

Sie wollen, dass die Behinderten das Heft in die Hand bekommen. Wo liegt denn für Sie die Grenze? Nicht alle sind ja imstande, für sich selbst zu entscheiden, was für sie das Beste ist.

Siems: In der Regel können Leute schon mitteilen, was sie möchten, auch wenn das im Einzelfall schwierig sein mag. Ist jemand in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt, dann hat er einen Beistand, der ihm mit den Details helfen kann.

Alijaj: Jeder Mensch kann von sich aus entscheiden, was für ihn richtig ist. Natürlich muss man ihm dafür die nötigen Hilfsmittel geben. Aber es braucht keine Bevormundung.

Das Leben für Behinderte hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Schweiz stark verbessert. Was braucht es aus Ihrer Sicht noch?

Alijaj: Wir fordern letztlich eine vollständige gesellschaftliche Gleichstellung. Das fängt bei der Bildung an. Wenn man will, kann man die meisten Behinderten in die Regelschule integrieren. So liessen sich viele Vorurteile und Hemmungen abbauen. Aber das muss im Kindergarten anfangen. Was nützt mir eine barrierefreie Universität, wenn ich nicht in die Regelschule gehen konnte?

In der Praxis zeigt sich aber, dass die Inklusion nicht so einfach ist. Wenn ein einzelner Schüler plötzlich die komplette Aufmerksamkeit des Lehrers beansprucht, dann leidet der ganze Unterricht darunter.

Alijaj: Natürlich wollen auch wir nicht, dass die Inklusion auf Biegen und Brechen durchgesetzt wird. Sicher gibt es Fälle, in denen das keinen Sinn gibt. Aber oft lässt sich schon mit kleineren Massnahmen viel erreichen. Wenn man beispielsweise Bücher durch elektronische Lehrmittel ersetzen würde, würde das vielen Kindern, sowohl mit als auch ohne Behinderung, den Zugang zum Schulstoff erleichtern.

Wie wollen Sie denn Ihrer Idee von Gleichstellung zum Erfolg verhelfen?

Siems: Wie gesagt, die Behinderten selbst müssen ihre Stimme erheben. Die Selbstvertretung wurde in der Schweiz stark vernachlässigt. In einigen Behindertenorganisationen fällen ausschliesslich Menschen ohne Behinderung die Entscheidungen. Die Fremdbestimmung ist immer noch vorhanden.

Sie fordern ja auch, dass einigen Organisationen Subventionen gestrichen werden.

Siems: Heute haben wir ein Giesskannensystem, und damit muss Schluss sein. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Insos ist der Dachverband der Heime. Wieso sollte dieser Subventionen erhalten? Der Verband müsste eigentlich von seinen Mitgliedern finanziert werden. Es ist ja seine Aufgabe, die Heime zu koordinieren, und nicht, sich für die Anliegen von Behinderten starkzumachen.

«Heute leben viele in Heimen, die das nicht wollen und auch nicht nötig haben.» – Islam Alijaj

Aber so ganz stimmt das ja nicht. Insos, um beim Beispiel zu bleiben, setzt sich ja schon auch für die Belange von Behinderten ein.

Siems: Aber aus welcher Position tun sie das? Nicht aus unserer, sondern aus ihrer Position als Branchenverband, als Vertreter der Heime. Wir haben nichts gegen Organisationen wie Insos, es ist einfach nötig, dass Ordnung geschaffen wird. Es braucht Transparenz und eine klare Rollenverteilung. Solange die fehlt, gibt es Interessenkonflikte.

Sie attackieren die bestehenden Institutionen recht forsch. So vertreten Sie in Ihrem Manifest auch die Ansicht, dass Heimplätze abgebaut werden sollten.

Alijaj: In erster Linie geht es uns darum, dass Menschen mit Behinderung selbst entscheiden können, wie sie leben wollen. Selbstverständlich gibt es jene, die auf ein Heim angewiesen sind. Heute leben aber viele in Heimen, die das eigentlich gar nicht wollen und auch nicht nötig haben. Es gibt zu viele Heimplätze und zu wenig Alternativen.

Siems: Häufig scheitert das Leben ausserhalb eines Heimes daran, dass man keine barrierefreie Wohnung bekommt. Diese befinden sich nun einmal oft in Neubauten, die eher teuer sind. Für deren Miete reichen die Ergänzungsleistungen nicht aus.

Dem Staat steht halt nicht beliebig viel Geld zur Verfügung.

Siems: Natürlich nicht. Aber wenn Sie einem Behinderten ein paar hundert Franken mehr für die Miete bezahlen und damit einen Heimeintritt verhindern, dann lohnt sich das auch finanziell. Heute leben viele Menschen in Heimen, die kaum Pflege brauchen. Für die Heime sind das natürlich interessante Klienten, weil sie wenig Aufwand bedeuten. Sie haben deshalb wenig Interesse daran, dass sich an den bestehenden Strukturen etwas ändert. Wie gesagt, das heisst nicht, dass es keine Heime mehr braucht. Aber man sollte das Angebot im konventionellen Bereich zugunsten von Alternativen reduzieren. Stattdessen legt man Behinderten Steine in den Weg, wenn sie sich selbst organisieren wollen. Wenn Behinderte eine WG gründen und Assistenten anstellen wollen, ist das heute enorm kompliziert. Auch brauchte es bessere Entlastungsangebote für pflegende Angehörige. Denn sind diese überlastet, ist die Konsequenz häufig der Heimeintritt. Gerade der Kanton Zürich ist leider ein Entwicklungsland, wenn es um innovative Konzepte geht.