Romeo wird wohl für immer Kind bleiben

Die Zürcherin Renata Heusser hat ein schwer krankes Kind. Deshalb engagiert sie sich für die Erforschung des seltenen Dravet-Syndroms, einer Form von Epilepsie.

Jan Hudec
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Beim Tramfahren mit seiner Mutter ist Romeo glücklich. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Beim Tramfahren mit seiner Mutter ist Romeo glücklich. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Romeo ist schon ganz aufgeregt, streckt seinen Zeigefinger dem aus der Dunkelheit herannahenden Tram entgegen: «Äs Elfi», sagt er und dehnt dabei die Vokale viel zu lange, die Augen hat er leicht zugekniffen, so, als erforderte die Feststellung seine ganze Konzentration. Das Tram fährt am Hegibachplatz ein, Romeo zieht seine Mutter an der Hand hinter sich her durch das Gewimmel und drückt auf den Türknopf. Sogleich drängt er sich ins Innere und steuert zielstrebig seinen Lieblingsplatz an, die kleine Erhöhung im Heck des Trams. Ein kleines Mädchen sitzt schon dort oben, festgehalten von seiner Mutter.

Renata Heusser hilft ihrem Sohn hochzuklettern und sich neben die Kleine hinzusetzen. Für sie scheint er sich nicht zu interessieren, er schaut stattdessen verträumt in die regnerische Nacht, die erleuchtet ist von Strassenlaternen und Autoscheinwerfern. Doch dann hält ihm das Mädchen ein Salzstängeli hin, er betrachtet es kurz, greift mit der Rechten zu und sagt «Danke!», bevor er zu knabbern beginnt. An seiner Linken trägt er einen Handschuh, an dem das Mädchen nun herumzupft. «Will au söttigi», sagt es, den Kopf ihrer Mutter zugewandt. Romeo kichert. Das Mädchen ist etwa zweieinhalb, Romeo ist neun, doch vom Verhalten her unterscheiden sich die beiden kaum. Romeo leidet am Dravet-Syndrom.

Ohne Betreuung wird Romeo wohl niemals auskommen. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Ohne Betreuung wird Romeo wohl niemals auskommen. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Nur gerade 200 bis 350 Personen in der Schweiz sind gemäss Schätzungen von der seltenen und schweren Epilepsieform betroffen. In der Regel treten im ersten Lebensjahr schwere Anfälle auf. Schuld ist ein Gendefekt. Die Behandlung ist schwierig, da es kaum Medikamente gibt, welche die Situation verbessern. Neben den epileptischen Anfällen, die oft durch Hitze ausgelöst werden, leiden die Kinder auch an einer verzögerten sprachlichen und kognitiven Entwicklung, häufig an Gleichgewichtsproblemen oder Wahrnehmungsstörungen. Zum Teil weisen sie auch autistische Züge auf.

Der Traum vom Leben in Argentinien

Wir schreiben das Jahr 2008. Renata Heusser lebt seit einem Jahr mit ihrem Mann, einem Tangomusiker, in Buenos Aires. Sie unterrichtet Deutsch, gestaltet Broschüren für die ETH Zürich und überwacht den Umbau ihrer Wohnung im Stadtteil Caballito gleich beim Parque Centenario. Dass sie hochschwanger auf der Baustelle auftaucht, beeindruckt auch die Arbeiter und hält sie zur Eile an. Alles läuft gut, der Traum vom Leben in der Fremde wird Realität.

Romeo ist ein einfaches Kind, quengelt wenig, schläft gut. An einem Morgen in diesem feuchtwarmen Sommer legt sich Renata Heusser nach dem Stillen nochmals ins Bett und versucht einzuschlafen, als sie hört, dass Romeo eigenartig atmet. Sie ist noch im Halbschlaf, als sie sieht, wie ihr Sohn sich in seinem Bettchen krümmt. Die verdrehten Augen. Der zuckende Körper. Sie weckt ihren Mann, streift sich hektisch die ersten Kleider über, die sie greifen kann, nimmt Romeo auf den Arm, und zu dritt stürmen sie auf die Strasse. Ein Taxi fährt sie ins nächste Spital. Bis sie dort sind, hat sich Romeos Körper beruhigt, doch sie bleiben noch 48 Stunden zur Beobachtung. Alles scheint okay zu sein, vielleicht war es eine einmalige Sache.

Doch nur acht Tage später folgt der nächste Anfall. Ein schwerer diesmal. Romeo hört auch im Spital nicht auf, sich zu krampfen. Vom Notfall geht’s über unterirdische Gänge in die Intensivstation, Romeo windet sich. Als das Bett in die Station geschoben wird, bleiben die Eltern vor verschlossenen Türen, allein mit ihrer Ungewissheit: Sehe ich mein Kind lebend wieder? Romeo wird ins medikamentöse Koma versetzt, künstlich beatmet. Erst nach drei Tagen wird er die Augen wieder öffnen.

Es vergingen anderthalb Jahre, bis Renata Heusser erfuhr, dass ihr Sohn am Dravet-Syndrom leidet. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Es vergingen anderthalb Jahre, bis Renata Heusser erfuhr, dass ihr Sohn am Dravet-Syndrom leidet. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Es bleibt nicht bei diesem Vorfall. Nach diversen Untersuchungen drückt eine Neurologin Renata Heusser ein Papier in die Hand mit einer ominösen Abkürzung darauf: «SCN1A». Sie solle bei Romeo einen Gentest machen, allerdings in Europa. Mehr erfährt Heusser damals nicht. Und stellt auch keine Nachforschungen an. «Ich weiss nicht mehr, warum ich das nicht gemacht habe. Aber ich bin froh darüber, weil ich noch eine Weile in der Hoffnung leben konnte, dass sich vielleicht alles noch herauswächst.»

Es werden anderthalb Jahre verstreichen, bis Renata Heusser erfährt, was ihr Sohn wirklich hat. «Ich weiss noch, wie ich tränenüberströmt am Computer sitze und alle Informationen über das Dravet-Syndrom ausdrucke. Es ist doch einfach nicht möglich, dass mein Sohn eine unheilbare Krankheit hat.» Die junge Familie lebt damals schon wieder in der Schweiz, «vor allem auch, weil wir uns eine bessere Versorgung für unseren Sohn erhofften».

Der unerwartete Preis

Es ist schon 14 Uhr, Renata Heusser muss sich beeilen. Ihr Arbeitstag an der ETH ist vorbei, doch jetzt geht es mit dem Tram nach Zürich Seebach an die Heilpädagogische Schule Staudenbühl. Sie ist auf dem Weg zu Romeo, der ein hübscher Bub geworden ist mit seinen braunen Haaren. Sie holt ihn ab für die Reittherapie, für die sie quer durch die Stadt auf die Lengg fahren werden. Heusser hat einiges zu jonglieren. «Ohne meinen Terminkalender auf dem Handy ginge es nicht», sagt sie lachend. Ein Blick darauf zeigt, dass alles bis in die letzte Minute durchgeplant ist.

Einmal pro Woche geht Romeo zur Hippotherapie bei der Klinik Lengg. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Einmal pro Woche geht Romeo zur Hippotherapie bei der Klinik Lengg. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Romeo kommt nicht ohne Betreuung aus. Er ist aber nicht ihre einzige Sorge. Zu Hause hat sie einen zweieinhalbjährigen Sohn, Luca. Zudem arbeitet sie in einem 50-Prozent-Pensum an der ETH und präsidiert die Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz (www.dravet.ch), die sie mitgegründet hat. «Wir wollen damit einerseits Betroffenen Informationen zur Verfügung stellen und andererseits Forschung fördern.» Gemeinsam mit dem europäischen Verband, in dem Heusser ebenfalls aktiv ist, suchen sie Forschungsprojekte, die sie mit Spendengeldern unterstützen. Für ihr unermüdliches Engagement hat sie vor zwei Wochen den schweizerischen EPI-Preis erhalten. «Das kam für mich völlig unerwartet und hat mich natürlich extrem gefreut.» Vor allem hofft sie, dass dadurch das Dravet-Syndrom noch bekannter wird.

Mittlerweile ist sie mit Romeo im Auto unterwegs, das Schultaxi fährt sie zur Therapie. Während sie ihm Frischkäse auf Cracker streicht, singt Romeo fröhlich die spanischen Kinderlieder mit, die aus den Boxen schallen: «A ver, a ver . . .»

Im Moment leben

Noch immer hat er einmal in der Woche einen Anfall, in der Regel im Schlaf, «sie dauern aber meist nicht mehr so lange», sagt Heusser. In seinem Rucksack, den er immer dabei hat, sind Notfallmedikamente und frische Kleider sowie eine spezielle, getönte Brille. Romeo ist mustersensibel, bestimmte geometrische Muster können bei ihm einen Anfall auslösen. «Wenn wir einen Ausflug machen, müssen wir immer die Umgebung kontrollieren, ob es nicht irgendwo ein heikles Muster hat», sagt Heusser. Was Romeo selbst von seiner Krankheit mitbekommt, weiss seine Mutter nicht, «er kennt es einfach nicht anders». Aber sie freut sich, dass er mittlerweile sogar an zwei Vormittagen in der Woche die Regelschule besuchen kann.

Renata Heusser will für ihren Sohn Romeo mehr im Moment leben. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Renata Heusser will für ihren Sohn Romeo mehr im Moment leben. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Die Prognosen für die kognitive Entwicklung sind beim Dravet-Syndrom in der Mehrzahl der Fälle schlecht. Auch ist die Sterberate erhöht. «Natürlich habe ich Angst davor, was die Zukunft bringt», sagt Heusser. Aber sie versuche, solche Gedanken so weit wie möglich von sich zu stossen. «Wir haben dadurch auch gelernt, den Moment stärker zu geniessen, im Jetzt zu sein. So wie das Kinder ja auch können.»

Romeo schaut gedankenversunken aus dem Autofenster. Plötzlich sieht er eine Tramhaltestelle: «Do fahrt äs Drü dure und äs Elfi», sagt er und strahlt über das ganze Gesicht.